Samstag, 5. August 2017

Dieser Teufel namens Schule

Schon früh war zu beobachten, dass unser Knopf irgendwie anders tickt als seine Altersgenossen. Und so galt er in der Kita als sogenanntes "I-Kind" (Integrationskind), was grob gesprochen mehr Förderung und einen besseren Betreuungsschlüssel bedeuten soll. Damals stellte das SPZ die Hauptdiagnose "Autismusspektrumsstörung" oder auch "atypischer Autismus" und zusätzlich zu gezielter Förderung durch seine Integrationserzieherin bekam mein Sohn wöchentlich Ergotherapie in 1:1 Situationen oder in Kleinstgruppen.
Wir wohnten damals in Berlin und dort war es bereits 2013 so, dass jedes Kind, welches bis zum 31.12. des Jahres 6 Jahre alt wird, im Sommer eingeschult wird. Das traf auf uns mit dem Geburtstag kurz vor Weihnachten zu. Ich empfinde 5 1/2 generell sehr früh für die Einschulung, für Jungs nochmal mehr (Ausnahmen bestätigen selbstverständlich die Regel). Wenn man dann aber ein Kind vor sich hat, welches massive Schwierigkeiten in der Feinmotorik und im sozial-emotionalen Bereich hat (sprich nicht in der Lage ist, sich in eine Gruppe zu integrieren oder überhaupt adäquat auf Gleichaltrige zu- oder einzugehen), dann ist Bauchweh beim Blick auf die Schulzeit wohl mehr als nachvollziehbar. Und so habe ich einen "Rückstellungsantrag" gestellt, welchem auch stattgegeben wurde. Dann sprachen sich aber plötzlich sowohl die Kita als auch das SPZ für eine reguläre Einschulung aus. Letzteres nahm sogar die Autismus-Diagnose zugunsten einer "Bindungsstörung" nebst oppositionellem Verhalten vom Tisch. Natürlich ist man als Mutter nur allzu gern bereit, sich sagen zu lassen, das eigene Kind ist ebenso schulreif entwickelt wie seine Kollegen und so traf ich eine schlechte Entscheidung, die mich nicht ruhig schlafen ließe,  wenn ich sie in irgendeiner Art rückwirkend beeinflussen könnte: Ich nahm die Rückstellung zurück und damit das Unheil seinen Lauf!
Ich versuchte im Vorfeld Hilfen für einen sanften Schulstart zu bekommen oder auch nur ein Gespräch mit der zukünftigen Klassenlehrerin zu führen. Doch die Aussage von Seiten der Regelgrundschule war lediglich "Elterngespräche führen wir grundsätzlich erst NACH den ersten Unterrichtstagen" und so beschränkten sich die Hilfen auf intensives Training der Graphomotorik und Tipps für linkshändige Schreibanfänger in unserer Ergotherapie.

Verlief die Einschulungszeremonie am Samstag noch ohne besondere Vorkomnisse, kam am Mittwoch drauf bereits der gefürchtete Anruf mit weit niederschmetterndem Inhalt als ich es mir hätte ausmalen mögen:  "Vollkommen schulunfähig! Nicht beschulbar! Zurück in den Kindergarten! Am besten ab morgen!"
Und ich habe es versucht, bis zur obersten Instanz, der Landesschulbehörde bin ich gezogen, doch einmal im Schulsystem gibt es keinen Weg zurück. Also musste eine Alternative her. Zuerst ging es in Verhandlung mit der Schule. Sein kurzes Leben hat mehrfach gezeigt, dass mein Kind sehr lange braucht, um sich in neue Situationen einzufinden. Von 6 Monaten auszugehen ist realistisch. Und so wurde in Gesprächen mit der Schule und dem SPZ eine Probezeit bis zu den Herbstferien festgesetzt. Zeitgleich wollte man sich nach einer alternativen Beschulung umsehen.
Für neue, fremde oder unsichere Situationen hat J. früh selbstständig Strategien entwickelt, sich runterzufahren, seine Gefühle zu kanalisieren und sich Sicherheit zu holen, welche er bis heute anwendet, wenn ihn etwas überfordert oder überreizt. Hauptsächlich holt er sich seine Beruhigung im immer wiederkehrenden Öffnen und Schließen einer Tür. Wenn man sich seine Schwierigkeiten beim Erkennen und Verstehen von Emotionen vor Augen führt, sieht man leicht, warum die Vorhersehbarkeit eines mehr oder weniger technischen Mechanismusses im Gegensatz zu der unberechenbaren menschlicher Reaktionen bei "solchen" Kindern oftmals den Vorzug bekommt. Zudem müssen sie sich in der meditativen Stereotypie nicht mit den eigenen (Versagens-)Ängsten auseinandersetzen.
Natürlich ist es aber auch ebenso nachvollziehbar, dass ein solches Verhalten oder auch ein unter dem Tisch sitzender, summender oder gar kreischender Schüler den Unterrichtsalltag stört.
Leider war es aber damals auch schon so, dass mein Sohn, wenn sein Rückzugsversuch in für ihn sichere Gefilde unterbunden wird, andere Möglichkeiten findet, vor dem was ihn ängstigt oder überfordert zu fliehen.
Da J. außerdem ein schlaues Köpfchen ist, lernte er schnell, welches Verhalten er an den Tag legen musste, um einer unangenehmen Schulsituation zu entkommen. Und so kam jeden Tag zu früherer Stunde der Anruf, ich müsse das Kind abholen kommen, es störe den Unterricht, entziehe sich den Lehrkörpern oder sei auf andere Weise nicht "händelbar". Bald war ich (übrigens schon ziemlich schwanger) nicht mal zu Hause angekommen, da klingelte bereits das Handy. Mit dem Konzept der "verlässlichen Halbtagsschule" und "Schulpflicht" hatte das nichts mehr zu tun. Ich musste hart kämpfen und mich sehr unbeliebt machen, um zu erreichen, dass man ihn zumindest in der Schule behielt, eine Teilnahme am Unterricht war kaum noch möglich.

Der für uns zuständige (und sehr engagierte) Psychologe des SPZ machte kurz vor Ablauf der ausgemachten Probezeit einen der überaus raren Plätze in einer sogenannten temporären Lerngruppe möglich und so wechselte J. noch vor seinem 6. Geburtstag (direkt nach den Herbstferien) in die 2. Schule seiner Laufbahn.
Das Konzept dort sprach uns anfangs sehr an: bis zu 8 Kinder mit mehr oder weniger ähnlich gelagerten Problemen wie bei meinem wurden dort von einem sozialpädagogischen Lehrer und 2 weiblichen Betreuerinnen durch einen gut strukturierten Tag mit eher praktisch fundiertem und individuellem Lehrplan begleitet. Örtlich war die Gruppe in einem eigenen Altbauhaus auf einem Grundschulgelände untergebracht.
Bald wurde mir das Kraxeln in den 2. Stock mit dem dicken Bauch zweimal täglich beschwerlich und auch hier berichtete das Personal schnell von untragbarem Verhalten wie z.B. das Öffnen der Fenster im Treppenhaus. Aber es fühlte sich zumindest passender und weit mehr nach Zusammenarbeit an.
Doch kurz nach seinem Geburtstag, genauer gesagt am letzten Schultag vor Weihnachten brach erneut alles über uns zusammen:
Ich war bereits über Termin und lag im Geburtshaus am CTG, daher ging ich nicht an's Handy, ehrlich gesagt hörte ich es nicht einmal klingeln. Also rief die Schule den Papa an, welcher zwar Gott sei Dank den Anruf entgegen nahm und auch gerade keine Schicht hatte, aber in Potsdam lebte. Von dort bis nach Berlin Pankow dauert es mit den Öffis eine ganze Weile. Der Lehrer aber drohte: "Wenn Sie J. nicht in einer Stunde abgeholt haben, informieren wir das Jugendamt!" Mein Sohn hatte entgegen all seinem bisherigen Verhalten eine Grenze überschritten und den Lehrer geschlagen.
Sein Vater flog buchstäblich hin und wurde dennoch von der Kavallerie - Lehrer, Direktor und dem Jugendamt - empfangen.
Ich habe die Details seines Berichtes verdrängt, welche er mir ganz sicher alles andere als emotionslos mitgeteilt haben wird, als wir uns in unserer Wohnung trafen. Hängen geblieben ist einzig die niederschmetternde Tatsache: J. darf nach den Weihnachtsferien nicht wiederkommen! Gerade einige Tage 6 Jahre alt, flog unser Sohn bereits von der 2. Schule, noch dazu einer, die eigentlich für solch hoffnungslose Fälle erdacht war.
Und zur Erinnerung: Es war Weihnachten!
In unserer Verzweiflung sprachen wir dem Psychologen auf die Mailbox und er machte zumindest einen Kompromiss möglich: 3 Monate, bis zum 31.03. würden sie den Jungen noch "betreuen", beschulen allerdings nicht. Und dies taten sie auch nur mit Blick auf meine Niderkunft.

War J. ein hoffnungsloser Fall? Würde er nie zur Schule gehen können? Nie eine Ausbildung machen und einen Beruf ausüben können?
Ich sah es eher anders herum: Das Berliner Schulsystem war an meinem kleinen Kind gescheitert!
Also zogen wir als Eltern des Schluss, dass sich die Wege trennen mussten.
Die Entscheidung fiel schwer, bedeutete sie doch, dass Vater und Sohn sich nicht mehr so häufig und regelmäßig sehen würden. Gemeinsam entschieden wir dennoch, dass ich mit den Kindern zurück nach Hannover gehen würde. Mit dem frischen Babymädchen unter'm Arm (na gut, eher vor'm Bauch) ging es im Vorfeld auf die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung und, was ungleich schwieriger war, einer Schule!
Da eine Regelschule nicht in Frage kam, konzentrierte ich meine Bemühungen auf die zwei großen Förderschulen der Stadt.
Nach einem ziemlich holprigen Umzug hieß es nun 5 volle Monate ohne Fremdbetreuung oder großartige Hilfen durchhalten, mit einem Frischling (die Kleine kam am 25.12. - aber diese Odyssee ist eine andere Geschichte) und dem Großen, den man eigentlich nie aus den Augen lassen konnte und 24/7 betreuen musste. Kurz gesagt: Ich ging gründlich auf dem Zahnfleisch!
Eines Tages, wir waren gerade in einem kleinen Bekleidungsgeschäft, klingelte mein Handy und die Schultagesgruppe einer der großen Förderschulen war dran: Wir hatten einen der wirklich sehr raren Plätze ergattert! Das war der Moment, der mich zusammenbrechen ließ. Scheiß auf alles um mich herum, ich setzte mich vor Erleichterung heulend zwischen Klamottenstapel.
In dieser Gruppe (wiederum in einem schnuckeligen kleinen Häuschen auf dem Stiftgelände) wurden 8 Jungs am Vormittag unterrichtet und nachmittags vom pädagogischen Team in der sozial-emotionalen Entwicklung begleitet. Dieses Konzept ist auf 2 Jahre befristet, in denen der Stoff des ersten Grundschuljahres vermittelt werden soll. Danach können die Schüler in die Förderschule oder eine Regelschule wechseln.
Das erste Jahr verlief okay.

Eigentlich wollte ich gern eine Mutter-Kind-Kur machen, aber unsere Ärztin riet zur Reha. Gesagt - getan!
Das Haus im brandenburgischen Nichts war allerdings der Horror! Ich bekam nicht wie erhofft "Handwerkszeug" für den Umgang mit unseren Schwierigkeiten, mir wurde immer nur vorgeworfen, was der Bengel wieder Unerlaubtes ausfraß und wie ich NICHT reagieren sollte. Zudem empfinde ich es als fraglich, die Kur-Schwerpunkte "verhaltensauffällige Kinder" und "schwerst drogenabhängige Erwachsene" in einer Einrichtung, einem Essensraum zu mischen. Das Schlimmste aber war die Schule, welche 3 x die Woche vormittags auf dem Gelände stattfand. Mein Junge tat, was ihm logisch erschien: bei jeder ihm unangenehmen Aufgabe ging er einfach aus dem Schulhäuschen. Dann rief die Lehrerin bei der Stationsschwester an, diese bei mir und ich musste mich dann allein auf die Suche machen. Das Haus weitläufig, das Gelände, mit angrenzendem Wald unüberschaubar.
Wir nahmen also nach 3 Wochen folgende Erkenntnisse mit nach Hause:
* Weglaufen hat ein lustiges Verstecke- & Fangespiel zur Folge, Unterricht fällt dann aus (ganz toll!)
* für eine ordentliche Beschulung bedürfe es einen Integrationshelfer (ach neeee, echt???)
* zu Hause sollte ich das Kind dringend auf AD(H)S testen lassen (WTF, das ist doch erfunden)
* kann es sein, dass eine Autismusstörung vorliegt? (BOAH, ich raste aus!)

Wieder zurück in der Schultagesgruppe wandte J. das Gelernte postwendend an. Was zur Folge hatte, dass er eines Tages mit 'nem Schulkollegen aus dem Badezimmerfenster entwich und SECHS Stunden polizeilich gesucht wurde! Trotz Suchmeldung fuhren die Jungs mit Bus und Bahn kreuz und quer durch Hannover, quatschen fröhlich mit Autofahrern auf Schnellwegzubringern und ließen sich Saft und Brötchen in einer Gartenlaube kredenzen. Zwei 7-Jährige in Hausschuhen bei Regen und zur Schulzeit allein unterwegs! Ob jemand die Polizei rief? Ja, nach Stunden! Eine der Förderschullehrerinnen erkannte die Schüler an einer Bushaltestelle, sagte ihnen, sie sollen da warten, sie ruft die Polizei. Sprach's und fuhr weiter. Als die Polizei eintraf, waren die Kinder wieder weggelaufen, jetzt aus Angst vor Ärger! Meine Nerven waren in der Zwischenzeit schlichtweg nicht mehr vorhanden. Nach 6 Stunden, längst war die Schule aus, trudelte die zwei von allein wieder dort ein.
Gott sei Dank unversehrt, allerdings mit schweren Strafen bedacht.

Auf einer Förderschule mit dem passenden Schwerpunkt "sozial-emotionale Förderung" als unbeschulbar eingestuft zu werden, ist wohl so ziemlich der Endpunkt der "Karriere". Aber genau dies drohte uns. Was dann allerdings geschehen würde, wie die Zukunft aussehen würde, kurz gesagt 'Wohin mit dem Kind', das sprach keiner der Fachleute aus, nicht mal auf die sehr deutlich ausgesprochen Fragen face to face.
Also tat ich es: Möglichkeit a) Heimbeschulung mit sozialer Isolation und unter Verlust der familiären Gesundheit oder Möglichkeit b) geschlossene Heimunterbringung
Betretene Blicke zum Boden oder zum Fenster hinaus.
Na danke auch! Und das nur weil ein 7-Jähriger "Weglauftendenzen" und Vermeidungsstrategien zeigt. Nein, das waren verdammt nochmal beides KEINE Optionen!!!
Und so war es wieder an der Zeit die Löwin rauszulassen.
Ich bat um einen Platz in der Tagesgruppe einer Kinder- & Jugendpsychiatrie (KJP). Das klingt grausam gestört, aber es war die letzte Idee.
In der Zwischenzeit wurde J. zeitlich minimiert unterrichtet, d.h. der Fahrdienst griff nicht, ich musste ihn mit den Öffis frühzeitig abholen.
Gott sei dank ging es relativ schnell mit der Aufnahme. Kurz vorher war die ziemlich langwierige ADHS-Diagnostik abgeschlossen worden: Jackpot!
Mit der (mit viel Bauchweh zugestimmten) Medikation war ich nicht zufrieden, ein weiterer Punkt, den die KJP in Ruhe und fachmännisch angehen sollte.
Die nächsten 3 Monate waren organisatorisch gesehen ein Alptraum: um 8 mussten wir dort sein, um 16 Uhr wieder abholen. Das hieß, beide Touren musste die Kleine mit. So saß sie täglich über 1,5 Stunden in der Bahn, im Kinderwagen. Das war gar nicht schön und sie litt sichtbar darunter. In den ersten Tagen wurde die alte Medi erst ausgelassen und dann gegen eine andere ersetzt. Der Auslassversuch war grauenvoll! Das Verhalten erinnerte mehr an ein Tier als an ein Menschenkind. Mit den Fingern in den Ohren, entsetzlich kreischend, rannte er blindlinks durch daa gesamte Krankenhausgebäude. Zumindest war ich jetzt mit der Entscheidung "pro Medi" ausgesöhnt, damit habe ich nämlich schwer hadern müssen. Zu beobachten, wie mein Kind erstmals bei einer Sache blieb, statt gehetzt hin und her zu springen (gedanklich wie buchstäblich) und auch ein erstes Auseinandersetzen mit den eigenen Gefühlen sowie den Mitmenschen berührte mich stark in der Tiefe meiner verdrängten Gefühle.
J. hat viele Fortschritte gemacht und so wurde er mit neuer Medikation und Unterstützung der KJP-Lehrerin nach der regulären Zeit von 3 Monaten schrittweise zurück an die Schultagesgruppe geführt. Der Antrag auf Schulbegleitung war auch gestellt und in der Zwischenzeit begleitete die Heilpädagogische Ambulanz (HPA) die Unterrichtszeit. Das letzte Hilfeplangespräch (HPG) verlief weit mutmachender als alle vorherigen: Mein Sohn sollte nach Ablauf der 2 Jahre in der Fördergruppe erneut sein Glück auf einer Regelschule versuchen, denn abgesehen von seiner Legasthenie konnte er schulisch mit anderen Erstklässlern mithalten. Voraussetzung war ganz klar eine gut eingestellte Medikation, weiterhin Bemühungen von Seiten des Elternhauses und der Therapeuten sowie definitiv eine Schulbegleitung. Letztere fanden wir auf den letzten Drücker, kurz vor den Sommerferien.
Das Kennenlernen der neuen Klasse(nlehrerin) samt Hospitieren schaffte ein gutes Grundlagengefühl und so meldete ich J. für die 2. Klasse der für uns zuständigen Regelschule an. Eine sogenannte Brennpunktschule, aber wer Normalität will, muss sie auch so nehmen wie sie ist, nicht wahr?

Mittlerweile ist ein Schuljahr um. Alles in allem bin ich zufrieden mit der Entscheidung für die Regelschule, vor allem aber bin ich die stolzeste Mama der Welt! Was dieser Bengel für Fortschritte gemacht hat, ist einfach unglaublich. Dazu werde ich beizeiten einen gesonderten Beitrag verfassen.
Was ich euch aber gern noch erzählen möchte, sind die Steine, die ihm immer noch vor die Füße geworfen werden. Ich möchte damit niemanden persönlich angreifen. Wenn jemanden eine "Schuld" trifft, dann ist es unser System. Andere Länder zeigen uns, dass es durchaus anders gehen kann. Vielleicht liest ja jemand diese Worte, der an der richtigen Stelle sitzt. Eine Lehrkraft, ein Pädagoge, ein Nachbar, Bekannter, Beamter, Sachverständer, Elternteil eines Klassenkameraden, ... den ich dazu inspirieren kann, sein Verhalten zu überdenken, reicht aus, um diesen Blog als erfolgreich zu empfinden.

Situation 1:
J. hat eine bescheinigte Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS oder auch Legasthenie). Einen Nachteilsausgleich habe ich gestellt, dieser wurde allerdings offiziell ignoriert, mündlich wurde mir gesagt, das mache man situationsabhängig so unter der Hand, einen offiziellen Ausgleich mit etwas Schriftlichem gäbe es nicht. Das führt dazu, dass kaum etwas zu erkennen ist von einem Ausgleich seines Nachteils. Zum Beispiel bekommt er nicht mehr Zeit in Klassenarbeiten oder einen gekürzten Diktattext. Meinen Vorschlag eng beschriebene DIN A4 Arbeitsblätter visuell zu entzerren (durch Abdecken der immer folgenden Zeilen oder gar größeren Kopien auf mehreren Zetteln) lobte man beim Hilfeplangespräch, setzte man allerdings nicht einmal um.
Eine ihm zustehende externe Lerntherapie boykottierte die Schule, indem sie auf den Schulfragebogen schrieb, sie sähen keine Schwierigkeiten, die Schulbegleitung würde diesen Job schon toll übernehmen. Fakt ist aber, die Schulbegleitung ist keine Fachkraft und schon gar keine Therapeutin, selbst wenn, wäre es nicht ihre Aufgabe. Zeitgleich zu der Aussage, dass J. keine weitere Hilfestellung nötig hätte, stand aber im Mitteilungsheft an mich jeden Tag zu lesen, wie sehr das Kind sich verweigert etc. Dass ein Zusammenhang besteht,  ging den Pädagogen nicht einmal auf, nachdem ich es klar ausgedrückt hatte.
Was ich als wirklich peinlich empfand, war die Aussage, dass LRS eh nur im Deutschunterricht zu Tage treten würde. Dann kommt man also in Mathematik, Sachkundeunterricht etc. überall ohne Lesen bzw. Leseverständnis aus? Die Frage brauche ich wohl kaum beantworten, nicht wahr? Ich sag nur TEXT-Aufgaben 😜

Situation 2:
Auch eine auditive Reizverarbeitungsstörung (AVWS) gehört leider zu unserem Diagnosekatalog. Dies bedeutet grob gesagt, dass das Hörvermögen organisch gesehen unbeeinträchtigt ist, das akustisch Wahrgenommene aber 'falsch' oder gar nicht verarbeitet und damit nicht verstanden wird. Es hilft sehr, Kinder mit solchen Problemen durch einen Berührungsreiz in die Aufmerksamkeit zu holen, ihnen gut in die Augen zu blicken, einfache und kurze Sätze zu sprechen und das Gesprochene wiederholen zu lassen. Außerdem können sie sich meist nicht mehr als einen "Auftrag" zur Zeit merken.
Dieser Punkt seiner Beeinträchtigung wird von der Schule schlichtweg ignoriert. Nicht sofort Verstandenes darf die Schulbegleitung ihm beispielsweise nicht noch einmal auf Augenhöhe in anderen Worten erklären.
Ich besorgte auch besondere Lärmschutzkopfhörer für Kinder, empfohlen von anderen betroffenen Eltern und Therapeuten. Diese darf mein Sohn aber nicht im Unterricht nutzen. Die unglaublich undurchdachte Begründung: Dann könnten die anderen Schüler auch welche haben wollen. HÄÄÄ??? Also erstens gibt es sogar Schulen, welche ganze Klassensätze an Kopfhörern frei zugänglich für alle Schüler stellen. Und zweitens: Sind dann auch Brillen verboten? Könnte ja auch der Sitznachbar hübsch finden und haben wollen. Für mein Verständnis macht es keinen Unterschied, welche Fähigkeit beeinträchtigt ist und ein Hilfsmittel benötigt!

Situation 3:
Hausaufgaben.  Nachdem ich immer wieder Alarm geschrien habe, weil mein Sohn einfach nicht das HA-Pensum schafft, es gar nicht schaffen KANN, beruhigte mich der Direktor: Das Kollegium sei sich sicher, intellektuell gesehen käme J. ausreichend gut mit, seine individuellen Förderziele lägen woanders. Nämlich im Ankommen in der Klasse und dem Sammeln von Eigenzutrauen, was zu höherer Eigenmotivation führen soll. Vor allem aber herrschte zu Hause nur noch Krieg 😢 Schon beim Abholen aus der Schule bekam ich Bauchweh, hörte mir Tag für Tag von der Schulbegleitung an, dass weder die Unterrichtsarbeiten noch die HA (in der dafür vorgesehen Nachmittagszeit) ansatzweise erledigt wurden. Also musste zu Hause gestritten werden, um jedes Wort, um jede Zahl. Die Feinmotorik ist seit jeher nicht J.'s Stärke, und so verweigert er erstmal per se alles, wobei er einen Stift führen soll. 2 Stunden Schreierei und Tränen (von uns beiden) kostete es manchmal, bis er endlich anfing. Oder ich voller Wut und Enttäuschung aufgab. Es war die Hölle. Für mich, für die kleine Schwester, aber ganz sicher am meisten für den Großen!
Der Direktor "rezeptierte" uns 20 Minuten HA-Zeit pro Tag, mehr nicht.
Aber ich bekam es mit der Angst zu tun: In dieser Zeit schafften "wir" bei guter Motivation 1/2 DIN A4 Seite. Die normalen HA beinhalteten aber oft 4 Seiten. Pro Hauptfach. Hinzu kamen verweigerte Aufgaben aus dem Unterricht. Im Kopf rechnete ich aus, wieviel zurück J. In einer lausigen Wochen läge ... einem Monat ... einem Schuljahr! Adieu Abschluss - auf Wiedersehen Berufsausbildung.
Doch wieder beruhigte und bremste der Direktor mich und wir vereinbarten Folgendes: am Tag weiterhin 20 Minuten HA-Zeit zu Hause. Nicht erledigte Aufgaben aus dem Unterricht sollen mich nicht tangieren, das ist Schulsache. Und wenn ich spüre, dass der Tag kein guter ist, sollte ich nicht kämpfen. Dieser Mist vergiftete und zerriss unsere Familie.
Ich schaffte es tatsächlich, Spannung rauszunehmen, unser Alltag gewann einiges an Fröhlichkeit und Liebe zurück.
Die Klassenlehrerin allerdings schien das Konzept ihres Vorgesetzten nicht so angemessen zu finden. Immer wieder stand im Heft: "Hausaufgaben nicht gemacht!" Obwohl ich am Tag zuvor kommentiert habe, dass J. sich zwar 20 min viel Mühe gegeben hat, aber nicht mehr als 2 Sätze geschafft hat. Oder: "J. hat im Unterricht die Mitarbeit verweigert, bitte nachholen. Aber nicht am Wochenende,  da sollen die Kinder frei haben." Es war zum Haareraufen!

Ich könnte viele weitere kleine, dennoch schmerzende Sequenzen erzählen, aber dieser Blogpost ist schon jetzt viel zu lang.
Wer bis hierher durchgehalten hat, dem danke ich! Mir ist bewusst, dass dieses Mal die Leichtigkeit in der Schwere der Thematik fehlt und vor allem mein Humor. Aber dieses Thema beißt mir aktuell immer noch in's Herz und es ist leichter zu lachen, wenn es hinter dir liegt. Außerdem habe ich die kompletten Sommerferien gebraucht, vom ersten Wort bis hierher. Denn ich hatte die Kinder um mich und das Wetter war grauenhaft.  Daher konnte ich immer nur einige Minuten daran sitzen und so mochte sich kein Schreibfluss entwickeln. Schade um die Leselust und vor allem um den fehlenden Therapie-Effekt. Denn ich verrate euch das Geheimnis, warum es so selten einen Text von mir gibt: Jeder Post fühlt sich an wie eine Woche Intensivtherapie. Normalerweise bin ich eine Meisterin der Verdrängung. Doch a-special-kind wühlt mich auf, reinigt, rückt zurecht und lässt Gefühle fließen wie sonst nie!

Jetzt starten wir in ein neues Schuljahr, ich gespannt, was die 3. Klasse für uns bereithält.
Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht: Englisch und Schwimmen kommt neu auf den Stundenplan. Ratet, was davon die Gute ist 😄😄

P.S.: Ich habe gerade 73,45 € für Schulbücher bezahlt. Plus 20 € Leihgebühr für 2 weitere Bücher, die gekauft 65 € gekostet hätten. Wieviel das ganze Equipment gekostet hat, vor allem für einen Linkshänder, rechne ich euch nicht vor. Tja, Bildung kostet! 😉
Also investiert! Alles Liebe, eure Anni

Freitag, 30. Dezember 2016

Grinch-Time

Grinch-Time


Als Scheidungskind habe ich irgendwann dem "Fest der Liebe" den Rücken zugewandt. Wie es dazu kam ist eine andere Geschichte und nur die meine, daher führe ich sie hier nicht weiter aus. Dennoch erwähne ich es, um das sogenannte große Ganze zu erfassen.

Für meine Kinder haue ich dem Grinch in mir jedes Jahr auf's Neue mit dem Gänsebräter auf den Dickschäel und versuche ihn unter der Oberfläche gebändigt zu halten. Dieses Jahr ist mir das sogar ziemlich gut gelungen, im Vorfeld. So in echt, nicht nur als Schau für die Kinder. Ich begann, es wieder "zu fühlen". Und es war fantastisch! Wir haben den Kompromiss geschlossen, das Tochterzimmer als Weihnachtszimmer zu dekorieren, der Rest der Wohnung blieb "Schingeling-frei".
1,5 Wochen vor Heiligabend kaufte ich einen echten (!) Baum und gemeinsam mit des Tochters "Liebchen" und seiner Mama schmückten wir ihn. Währenddessen erzählte ich Geschichten über meine Oma, die immer die Weihnachtszauberfäden meiner Kindheit in Perfektion flocht. Von echtem Engelshaar, echten Kerzen, einem irgendwie ... besseren Lametta. Das Essen bombastisch, das Geschenkpapier wurde gebügelt und die nächsten 10 Jahre wiederverwendet ... Ja, damals ...

Es sei vorweggenommen: Der Baum und das Essen sind uns/mir dieses Jahr ganz gut gelungen möchte ich behaupten. ;-)

Am Abend diesen schönen Tages überkam es mich das erste Mal in der diesjährigen Weihnachts-Saison:
"Das Grinchen"!
Angeführt von tiefer Melancholie spielte auch Wut und Enttäuschung mit.
Warum, wenn doch alles so schön war?
Ich versuche, es euch zu erzählen:
Dieser kleine Freund meiner Tochter, zu diesem Zeitpunkt beide unschuldige 2 Jahre alt, er liebt sie wirklich! Weder, dass ihre Eltern sich nicht kannten, noch dass uns 4 Stadtteile trennen oder der Kitawechsel unsererseits konnten dieser Liebe etwas anhaben. Und sie beruht absolut auf Gegenseitigkeit. Wenn die beiden sich etwa alle ein bis zwei Wochen treffen, dann ist es eine helle Freude, ihnen zuzusehen. Sie umarmen, küssen, lachen, schnattern und setzen einfach beim letzten Spiel wieder an.
Und er ist nicht der einzige Kamerad: Zu ihrem 3. Geburtstag hat mein Kind mal eben 11 (ELF!!!) kleine Gäste eingeladen. Und ich bin mir sicher, sie kommen ALLE!

Und hier kommt mein Herzsprungschmerz in's Spiel.
Meine "special edition" hat nur 7 Tage vorher Geburtstag. Er hat 3 Kinder eingeladen. Eines davon ist die Tochter meiner besten Freundin, zählt also nicht so richtig, wenn ihr versteht. Die anderen beiden sind Jungs aus seiner neuen Klasse. (Ich werde nicht wieder 12 Monate vergehen lassen, um euch diese Geschichte zu erzählen, versprochen!) Beim Gedanken an die Planung zu diesem, mittlerweile 9., Geburtstag bin ich sehr viel weniger beschwingt.
Denn mein Sohn hat keine Freunde. Nicht 11 und nicht 1. Keinen. Noch nie gehabt.
Das beinhaltet unter anderem: Keine Verabredungen am Nachmittag oder am Wochenende. Keine Einladungen zum  Geburtstag. Und eben keine Gäste zum eigenen Fest.
Letztes Jahr kamen von 8 geladenen Gästen ganze 2.
Wie fängt man das auf als Mama? Mit Mühe und Not. Und Liebe. Was bleibt denn auch anderes?

Hier kommt die traurige Auflösung, am Sonntag, den 18.12. war es soweit.
Es kam 1 Gast. Die Tochter meiner Freundin.
Einer der Schulkollegen hatte sich gar nicht erst gemeldet, der andere bekam am Tag vorher Magen-Darm.
Der Mutter des Letzteren muss man zugute halten, dass sie dennoch kurz vorbeikam, mit dem Geschenk und lieben Wünschen. Wie wertvoll diese scheinbar kleine Geste für uns ist, wird kaum jemand erfassen können.
Meine Freundin brachte - JUHU - ihre anderen 2 Kinder und ihren Mann mit, so dass die Bude trotzdem mit Leben gefüllt war. Und ihre Anwesenheit fing mich ein wenig auf. Ein nicht zu verachtender Nebeneffekt. Denn in seiner Ohnmächtigkeit und Nicht-Verstehen kann ein Kind als letztes eine am Boden zerstörte Mutter zum Geburtstag gebrauchen. Danke dafür, Lieblingsmensch!

Kaum ist der Geburtstag des Großen "abgefrühstückt", geht es aufgrund meiner miesen Geburtsterminplanung (haha) natürlich an die konkrete Weihnachtsplanung.
Zu meinen Kindern gehört selbstverständlich jeweils ein Papa und auch wenn ich mit keinem von beiden eine Beziehung bzw das klassische Familienmodell fahre, sind wir doch mehr als freundschaftlich verbunden. Und so meldete sich der Vater des Großen zum Heiligabend an, seinen Bruder im Gepäck. Wir freuten uns alle sehr. Denn Zeit und Raum lassen ein ausreichend regelmäßiges Teilhaben leider nicht zu.
Was soll ich euch sagen, ich bin nicht mehr 25, dazu durch die Kämpfe der letzten Jahre weitreichend aufgeschlissen. Ein Kind am 18.12. und eines am 25.12. ... dazu Weihnachten. Das ist nicht nur finanziell ein kaum zu wuppender Berg. Das will organisiert werden!
Wer macht das denn? Dieses wie die vergangenen und kommenden Jahre?
ICH! Allein!
- Adventskalender kaufen, aufhängen und (gerecht) befüllen
- täglich moderieren, wer die Kerzen anzünden und auspusten darf
- Tannenbaum kaufen und schleppen, ohne Auto
- Christbaumständer kaufen, zu Hause feststellen, dass er kaputt ist, umtauschen gehen
- Geschenke für die Kinder für Geburtstag und Weihnachten kaufen, verpacken, verstecken
- Geschenke wiederfinden
- Geschenke für den Rest der Familie "zaubern"
- Wohnung besuchertauglich machen
- Essen für die Feiertage planen, kaufen, schleppen, zubereiten
- abwaschen (Geschirrspüler gibt es hier nicht)
- Einladungs- und Weihnachtskarten schreiben
- diese auch wegschicken
- ah Mist: Geschenk für den Wichtelpartner aus der Probenähgruppe nicht vergessen
- Doppelmist: Mein Treppenputzdienst fällt natürlich in diese Woche
- Gästebetten herrichten
- Wäsche waschen, aufhängen, falten, wegräumen (ohne Trockner, na klar)
- Neue Wäsche, same procedure
- Aufregung und Enttäuschungen der Kinder auffangen!
- Lächeln nicht vergessen
Dazu der normale Alltagswahnsinn mit Therapien, Bewerbungen, Elterngesprächen, Weihnachtsfeiern.

Liebe Leser, was meint ihr wohl, was passiert, was nicht passieren darf?
Ein Tag vor dem großen Festtag?
El Chefa, der Boss, die Mamutschka, der Organisator, der Spielkreuzführer .... WIRD KRANK !!!

Geht das denn? Nein, geht natürlich nicht.
Also ab zur Apotheke. Mit Feuer spuckenden Mandeln nach der besten Droge im Haus fragen.
Der Apothekerin gequält in die konsternierten Augen blicken, auf die tasmanischen Teufel hinter einem weisen, die völlig unausgelastet das Schaukelpferd kapern und die magische Formel hauchen:
"ICH BIN ALLEINERZIEHEND"
Dass mein Sohn gerade seine erste Medipause macht (Jaja, sorry, auch dazu bald mehr), weiß die gute Frau ganz genau, schließlich befinde ich mich im Giftmischerhaus meines Vertrauens.
Nunja, ich habe mein Geld gegen einige Mittelchen tauschen dürfen, die eh kaum helfen werden. Dazu das Antibiotikum der Tochter gemopst, die gerade Scharlach hatte. (Hab ich nicht erwähnt, weil ... ach, ihr wisst schon, ist ja nichts besonderes)

Was soll ich sagen, der Besuch gab sich die Klinke in die Hand, inklusive Übernachtungen.

Heute morgen verabschiedeten wir die letzten 2. Mein Vater kam uns mit seiner Frau das erste Mal aus dem heimatlichen hohen Norden besuchen. Er ist der einzige Mann, den ich kenne, der WIRKLICH kann was er sagt und es auch noch tut. Also habe ich seine Anwesenheit schamlos ausgenutzt, Baumarktbesuch, neue Deckenlampe und 4 Stunden Hochbett/Schrank/Schreibtisch/Kombi der Tochter aufbauen inklusive.
Ich vermute, die beiden sehen wir hier nicht so schnell wieder.
Erwähnte ich, dass mein Großer seine Umwelt mit special effects auf Trab hält und die Kleine ... nun ... sie ist gerade DREI geworden. Stellt euch einen Erziehungsratgeber zu diesem Alter vor und nehmt das Beispielkind darin mal 5! Das ist nicht leicht zu ertragen. Ich weiß das. Ich habe täglich das Vergnügen.

Und wir? Tochterzimmer umstellen, umräumen, aufhübschen.
Teamwork war es und wunderschön zu wohnen ist es dort nun.
Solche Dinge fallen hier traurigerweise normalerweise hintenüber. Ich weiß, es muss mit ein bisschen Geschick nicht viel Geld kosten, es sich heimelig zu machen. Aber eben dieses, sowie die Energie dazu fehlt mir schlichtweg. Ich habe auch nie lange genug irgendwo gelebt, um das Gefühl von "Heimat", "nach Hause kommen" oder "Geborgenheit" kennenlernen zu dürfen.

Silvester haben wir uns frecherweise bei besagter Freundin zum Raclette, Böllern und Nervenspannen eingezeckt. Ich hoffe sehr, dass nichts dazwischenkommt und dass wir uns im neuen Jahr immer noch lieben.

Dann wird er weitergehen, der Wahnsinn. Die ersten 2 Wochen sind schon gut gefüllt. Der Geburtstag der Kleinen wird nachgefeiert, denn wer wäre schon am 25. gekommen? Der Papa der Lütten kommt uns besuchen, es stehen Amtsgänge, Eltern- und Vorstellungsgespräche an. Und so weiter ...


Also ... was soll ich sagen? STAY TUNED! BLEIBT DRAN! KÄMPFT! LÄCHELT!


... jeden verdammten Tag!

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Was "es" mit mir macht

WUT
Mein Sohn, mein Erstgeborener, mein Stammhalter, mein Wunschkind, mein Augenlicht, mein Stern, mein Mottenkäfer - ist "behindert". BAH, was für ein Wort! Und welch elendig langer Weg bis zur Akzeptanz desselbigen.
Also ICH akzeptiere es, mal mehr, mal weniger.
Und dennoch macht es mich unglaublich WÜTEND !!!
Doch gegen wen richtet sich die Wut einer Mutter, deren Kind so feine und doch massive Störungen mitbringt? Gegen "das Schicksal"? Ja, in besonders schwachen Momenten auch das. Aber im Alltag bin ich wütend auf reelle Menschen! Diese Art Behinderung akzeptieren ist kein Leichtes, das ist mir sehr schmerzhaft bewusst. Aber verurteilt man jemanden, nur weil man das was ihn beeinträchtigt nicht sehen oder skalieren kann? 
Unser Umfeld reagiert mit Augenrollen, Glotzen, Lästern, bösen Worten und Gezischel. Fremde motzen mich an, mischen sich ein, beleidigen uns. Details erspare ich euch. Und keiner von denen hat einen blassen Schimmer, was für ein Kind sie da vor sich haben. Aber es fragt auch niemand!
Selbst die eigene Familie steht dem nicht-gesellschaftstauglichen Verhalten verständnislos gegenüber.
Und als wenn all diese Schmach, die Dummheit und Ignoranz der Leute nicht ausreichen würde, kommen dann die "Fachleute" und die "Ämter" dazu. Sie schüren Hoffnung um sie am nächsten Tag wieder zu rauben. Sie geben Tipps, die nicht praktikabel sind. Sie verlangen Dinge, die ich nicht leisten kann - die J. nicht leisten kann. Sie werfen uns bürokratische Steine, nein Gebirge vor die Füße und machen Vorwürfe, wenn wir darüber stolpern. Sie sagen: "SO geht es nicht!" Auf die berechtigte Frage: "Wie dann?" ... Schweigen! Sie behandeln mich wie eine unintelligente, asoziale Frau. Um hintenraus festzustellen, dass ich ihnen Antworten geben kann auf Fragen, welche sie erst morgen stellen.
Und ja, ich bin auch wütend auf J. 
Womit wir direkt, ohne Umschweife, zu Emotion Nummer 2 kommen:

SCHAM
Ich schäme mich für meine Wut auf meinen kleinen Jungen. Denn er kann nichts dafür. Das ist Fakt! Leider - denn das bedeutet mit Pädagogik kommt man hier nicht weit. 
Ich schäme mich ebenso für mein eigenes Fehlverhalten. Denn das ist da. Ja, ich weiß, es ist eigentlich nur menschlich. Wer kann 24/7 kompetent handeln? Ich bin seine Mutter, ich bin so nah dran wie niemand sonst.
Ich schäme mich aber auch für mein Kind. Manchmal. Wenn er respektlos ist, "dumm" oder frech. Und für die Geräusche die er macht. 
Und dann schäme ich mich für meine Scham, richte mich auf, lege einen Arm um mein hübsches Kind und küsse ihm ein "Ich liebe dich" auf's Haar.

SCHULDGEFÜHLE
Bin ich Schuld? Ärzte haben mir versichert, das was J. an genetischer Disposition mitbringt, macht schon das Gros der ganzen Problematik aus. Okay. Aber hätte ich es ihm trotzdem irgendwie leichter machen können? Bevor ich in der 7. Woche von der Schwangerschaft erfuhr habe ich geraucht. Warum habe ich es nicht sofort sein lassen, als wir die Pille absetzen? Es war mir leider nicht möglich, natürlich zu entbinden und so musste J. per Notkaiserschnitt geholt werden. Und nach 12 Stunden auf dieser Welt wurde er in ein Kinderkrankenhaus verlegt, weil er zu niedrige Zucker- und zu hohe Entzündungswerte hatte. DREI Tage keine Mutter-Kind-Bindung. Denn ich durfte nicht mit - der Kaiserschnitt... Als der Kleine gerade 2 war, trennten wir, seine Eltern, uns. Ein weiteres Trauma? Viele Umzüge haben wir bereits zusammen vollzogen, dabei braucht gerade ein solcher Zwerg doch hauptsächlich Beständigkeit zum Wurzeln schlagen. AD(H)S (seine größte Baustelle) ist nachweislich vererbbar. 
Bin ich also Schuld?

TRAUER
Ich trauere um meine Wunschvorstellung von meinem Kind. Auch wenn ich es früher vehement abgestritten habe, so hatte ich dennoch Erwartungen an diesen Menschen. Zwar war mir egal, was er beruflich einmal wird, wen er liebt, wo und wie er lebt. Aber ich erwartete einen sozialen Menschen mit Freundschaften, einen Menschen, der integriert ist in das Leben, welchem ich meine Werte mitgeben kann. Von all diesen Wünschen muss ich mich verabschieden. Ganz will mir das noch nicht gelingen. Wenn mir die Fachleute sagen: "Ihr Sohn wird höchstwahrscheinlich an keiner Regelschule bestehen, keinen Abschluss machen und keinen Beruf erlernen." Ja, dann werde ich fast ein wenig trotzig. Das werden wir ja sehen! Und selbst wenn er es nicht schafft, ich würde ihn hintergehen, wenn ich die geringe Chance, dass er es schafft, nicht einmal in Erwägung zöge.
Es macht mich ebenso traurig zuzusehen, wie so unglaublich vieles, was für mich Kindheit und Wachsen bedeutet einen Bogen um J. macht.

ROLLENVERSCHIEBUNG
Ok, dieser Punkt beschreibt keine Emotion, dennoch möchte ich euch davon schreiben. 
Ich bin seine Mutter. Das definiere ich mit Vorbild sein, erziehen, lenken, für das Leben vorbereiten und ihn zur Not hineinschubsen, bedingungslos lieben, miteinander Spaß haben, diskutieren, philosophieren. Und auch wenn einiges davon selbstverständlich zu meiner derzeitigen Tätigkeitsbeschreibung zählt, ist da auch noch mehr: Ich bin zu einem Riesenprozentsatz die Betreuerin und Anwältin meines eigenen Kindes. Das ist gelinde gesagt ungesund. Für unsere Beziehung, für seine Entwicklung, für mich.
Und etwas darf man nicht ausser Acht lassen, bzw jemanden: Die kleine Schwester! Die mit 23 Monaten schon unglaublich selbstständig ist. Einfach weil sie muss. Sie wird einmal ihm die Hand reichen und zeigen wo das Leben langgeht, anstatt dass er sie zu ihrem ersten Diskobesuch begleitet.

EINSAMKEIT
J. ist einsam, aber bisher scheint ihm das viel weniger auszumachen als mir. 
Wer aber wirklich einsam ist, das bin ich. Ich habe keinen Partner an meiner Seite und einen neuen finden scheint mir eine unüberwindbare Aufgabe in meiner Situation. 1. Wo finden, wenn man nie allein irgendwo ist? 2. möchte ich einen potenziellen Kandidaten erst einmal allein "abchecken", bevor ich ihn meinen Kindern vorstelle. Aber wann? 3. Ich bin sehr feinfühlig geworden. Mr. Right müsste eben nicht nur mit mir und meinen (hoffentlich überwiegend liebenswerten) Macken umzugehen wissen, sondern eben auch mit beiden Kindern!
Neben einem Partner fehlen aber auch Familie und Freundschaften. Es ist schwer, Kontakte zu pflegen, wenn man permanent 100% der Aufmerksamkeit auf diesen einen kleinen Menschen richten muss. 
Und ich fühle mich allein in meiner Situation. Das Internet hat mir zwar andere betroffene Familien in ganz ähnlichen Schwierigkeiten gezeigt, aber einen echten Kontakt und Austausch gibt es meiner Meinung nach nur "live".

ZUKUNFTSÄNGSTE
Kann ich unsere kleine Familie beisammen halten? Oder kommt irgendwann der Punkt, wo ich uns räumlich trennen muss? Also vor dem "natürlichen" Zeitpunkt meine ich.
Kann ich irgendwann wieder einer (geregelten) Arbeit nachgehen? Momentan ist daran mit den 2 Stunden Fremdbetreuung am Tag nicht im Entferntesten zu denken.
Wird J. irgendwann genug gelernt haben, um allein leben, sein ganz persönliches Glück finden können?
Wird meine Tochter Y. nachhaltig an der Familiensituation zu tragen haben?

ENERGIEVERLUST
Es zehrt unglaublich dieses Leben. Ihr könnt euch das nicht vorstellen.
Wenn ich schrieb, er benötigt 100% meiner Aufmerksamkeit, dann ist es genauso. Und zwar, weil es um seine bloße Sicherheit geht. Mit keinem Gefahrenbewusstsein und ohne einer Vorstellung von den Gefühlen anderer tingelt J. einfach so durch seine Welt. Geht wohin er will ohne sich umzublicken. Bleibt stehen und fummelt an Dingen, die ihn interessieren, ohne Rücksicht auf das Drumherum. Klettert auf 6 m hohe Tannen, wieder und wieder. Läuft bei rot los oder steigt einfach mal ohne Vorwarnung aus der Bahn - einfach weil er es "nicht mehr ausgehalten" hat.
Ich muss alles (!) ständig wiederholen. In der konkreten Situation (z.B. das Anziehen) und jeden Tag auf's Neue (z.B. das Anziehen ;-) Ich verrate euch etwas: Das macht kirre. Und müde. 
Apropos müde: J. ist es nicht. Jedenfalls nicht abends, nicht seitdem er die Medikation bekommt. Vor 23 Uhr ist an Einschlafen nur zu denken, wenn er in meinem Bett neben mir liegt.
Wenn er dann endlich schläft, muss ich selbst erstmal mein eigenes Träumeland finden. Des nächtens kommt dann irgendwann die Lütte und um 6 ist die Nacht beendet. Dann beginnt der neue Tag mit demselben Kampf wie das Gestern. Gegen das eigene Kind, gegen die deutsche Bürokratie, gegen das Unverständnis der anderen, gegen das Aufgeben.
Und dann sind da die Korrespondenzen mit all diesen Institutionen. Immer auf's Neue. Über 20 Seiten Anamnese-/Elternfragebögen, immer wieder. Telefonate, Anträge, Bestätigungen derselbigen, Vermitteln zwischen all diesen und dem Kindesvater.
Dies alles ist sehr sehr schwer durchzuhalten, auch als intelligenter, informierter Mensch. 

HOFFNUNGSACHTERBAHN
Es ist ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. Das Diagnosenlabyrinth erspare ich euch heute, vielleicht drösel ich das mal in einem separaten Beitrag auseinander. Aber als das AD(H)S feststand, kam alsbald die Frage: Geben wir ihm Medikamtente? Und nach dem "ja" ist man noch lange nicht durch mit diesem Thema. Da muss dosiert werden, das Medikament gewechselt, die Nebenwirkungen abgewogen.
Der Kampf um den Schulbegleiter, großzügig gesehen besteht er seit Sommer 2013. Kann er mit dieser Hilfe eine Regelschule besuchen? Oder müssen wir selbst an einem Absolvieren der Förderschule zweifeln?
Therapien!?!? Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Elterntraining...
Was passiert in der Pubertät? Fällt dann alles in sich zusammen oder macht auch mein Kind einen positiven Entwicklungsschub?

STOLZ
Spitzt gut die Ohren, bzw. putzt die Brillen, denn jetzt erzähle ich euch mal, was mein Sohn auch ist:
Er ist total gern hilfsbereit! Für einen Menschen, den er mag opfert er sich auf.
Phantasie und Kreativität sind fester Bestandteil seiner kleinen großen Persönlichkeit.
Wenn man es gar nicht erwartet, haut er unglaublich tiefsinnige Philosophien raus. 
Und auch wenn es häufiger nicht klappt, so hat er doch manchmal einen wundervollen Blick auf die Menschen und in ihre Herzen. Er weiß genau um die Theorie des Seelenvogels.
Vor allem in der Grob- und Feinmotorik hat J. in den letzten 1,5 Jahren unglaublich viel aufgeholt. 
Ich kann ganz objektiv behaupten: J. ist  wunderschön!!! (innen wie aussen)
Last but not least bin ich stolz auf mich selbst!

LIEBE
Unter'm Strich das was bleibt, zählt und pusht.

Freitag, 23. Oktober 2015

Auf der Suche nach Inklusion

Ich möchte euch einen kleinen Ausschnitt aus dem Leben eines 7-Jährigen zeigen, vielleicht habt ihr Lust und Kraft, einmal genauer hinzuschauen auf die (nicht) gelebte Inklusion in Deutschlands (Grund-) Schulen.
Ich beginne im Sommer 2013, mein Sohn war damals 5 Jahre alt und ein sogenanntes Integrationskind mit Verdacht auf eine Störung aus dem Autismusspektrum. Wir lebten in Berlin und dort wird erstmal grundsätzlich jedes Kind eingeschult, welches im Einschulungsjahr 6 Jahre alt wird. Mein Sohn hat am 18. Dezember Geburtstag, also wurde er „eingezogen“. Mir war bei dem Gedanken daran eher mulmig. Aufgrund seiner Schwierigkeiten mit der Grob- und Feinmotorik, der sehr geringen Konzentrationsspanne und vor allem massiven Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Bereich erschien er mir so gar nicht schulreif. Also beantragte ich eine Rückstellung, welche uns auch gewährt wurde. Doch fast zeitgleich „verlor“ sich der Autismus-Verdacht, sowohl das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) als auch die (Integrations-)Erzieher waren sich einig, dass mein Sohn mit den anderen Vorschülern mithalten könne und eingeschult werden sollte. Nunja, da ist man als Mutter schnell vertröstet und geschmeichelt. Also habe ich den Fehler gemacht, die Rückstellung aufzuheben.
Und so wurde J. Im August 2013 in einer Regelschule entgegen meines ausdrücklichen Wunsches OHNE Schulbegleiter eingeschult (oder Integrationshelfer wie es mancherorts heisst). Auch wollte die Klassenlehrerin mit mir nicht im Vorfeld sprechen, dies täte sie immer erst nach Schulbeginn. Das tat sie dann auch: An Tag 3 kam der Anruf in welchem mir knallhart mitgeteilt wurde, der Junge sei nicht schulfähig, ich müsse ihn aus der Schule nehmen und wieder in den Kindergarten bringen. Wir haben es bis an die Spitze der Behörden getragen, aber in Deutschland gilt: Von der Schule zurück – das geht nicht!
Also bekamen mein Kind „Aufschub“ bis nach den Herbstferien, um sich anzupassen. Das tat er nicht. Im Gegenteil: schnell hatte er heraus, welches Verhalten zu einem Anruf zu Hause führte und ich ihn abholen musste. Soviel zur „verlässlichen“ Halbtagsschule.
Mit Hilfe des SPZs bekamen wir für nach den Herbstferien einen von nur 7 Plätzen in einer „temporären Lerngruppe“, welche an eine Grundschule angegliedert ist. Hier werden die Kinder (allesamt mit ihrem zu tragenden „Päckchen“) in einem Extra-Haus auf dem Schulgelände von einer Lehrkraft und 2,5 Erzieherinnen betreut und individuell unterrichtet. Nach anfänglicher großer Euphorie gab man leider auch dort auf. J. war mit seiner mangelnden Eigenmotivation und der Verweigerung in Anforderungssituationen bis hin zu schweren Wutausbrüchen nicht länger tragbar. Nach einer Suspendierung am letzten Tag vor den Weihnachtsferien wurde zu Jahresbeginn in soweit zurückgerudert, dass das Kind bin zum 01.04. dort hingehen könne, aber nicht unterrichtet würde. Man könnte es auch böse „Verwahren“ nennen. Als Lösung wurde mir ein Psychiatrieaufenthalt empfohlen..... Ich habe mich stattdessen für einen Bundeslandwechsel entschieden!
Und so landeten wir nach 3 Jahren Abwesenheit wieder in Hannover.
Hier gibt es noch zwei sogenannte große „Förderschulen“ mit jeweils an die 200 Schüler. Bereits von Berlin aus nahm ich Kontakt zu einer der beiden auf und fuhr her um sie mir anzusehen. Direkt nach den Osterferien sollte J. dort in die erste Klasse gehen. Bei einem Elterngespräch einen Tag nach dem Umzug stellte sich allerdings heraus, dass dies gar nicht umzusetzen sei, da in Niedersachen das Einschulungsalter höher angesetzt ist. Das bedeutete für uns: etwas mehr als 5 Monate ohne Fremdbetreuung. Mit Säugling im Haus. Alleinerziehend. Mit einem Sohn, der bei 2 Stunden ohne „Auslauf“ die Wände hochgeht. Na prost Mahlzeit!
Ich bekenne mich schuldig: Ich bin eine Löwenmutter! Ich glaube das ist Voraussetzung um ein besonderes Kind vom Schicksal zugewiesen zu bekommen. Also hieß es weiterkämpfen, die Zeit nutzen!
Ich wühlte mich durch alle möglichen Institutionen und so kam es ziemlich schnell zu einer Zusammenarbeit mit der Heilpädagogischen Ambulanz (HPA). Ein Team aus männlichem Heilpädagogen und weiblicher Sozialpädagogin begleitet uns seitdem. Dies beinhaltet Elterngespräche, Begleitung bei Hilfeplangesprächen u.ä. und ganz wichtig: (Er-)leben für das Kind. Ohne Mama aber im „echten“ Leben. Therapie im Alltag. Ohne diese Menschen wäre es um einiges härter gewesen!
Und dann erfuhr ich von einer „Schultagesgruppe“ mit dem Schwerpunkt sozial-emotionale Störungen für die ersten 2 Schuljahre. Sie gehört zu der 2. Förderschule in Hannover und die 9 verfügbaren Plätze pro Schuljahr sind sehr begehrt. Hier werden die Kinder vormittags beschult und am Nachmittag in derselben Gruppe gefördert. Nach den 2 Jahren wird entschieden, ob das Kind eine Chance in einer Regelschule hat oder auf der Förderschule bleibt.
Als mich die Zusage per Telefon beim Klamotten-Shoppen erreichte, musste ich mich setzen und weinen, so weh tat der fallende Stein.
Mit HPA, Ergo- und Psychotherapie bekamen wir den Sommer doch ganz gut hinter uns und J. wurde eingeschult. Zum 2. Mal. In seine 3. Schule. Ich hatte Angst! Große Angst, dass er ein drittes Mal scheitert. Oder besser gesagt das System an ihm scheitert. Denn wie könnte man einen 7Jährigen in diesem Belang schuldig sprechen? Wieder bettelte ich um einen Schulbegleiter, um die Startbedingungen so positiv wie möglich zu gestalten. Zu teuer hieß es. „Wir warten erstmal ab.“
Es wäre so schön und ich so glücklich wenn ich euch jetzt ein Happy-End bieten könnte. Doch diese Geschichte beschreibt das richtige Leben und somit geht es weiter:
Anfang dieses Jahres entschied ich mich dafür, meinen Sohn auf eine Reha-Kur (Psychosomatik) zu begleiten. Um ihn einmal ganzheitlich diagnostizieren zu lassen (denn eine wirkliche Diagnose gab es nach Wegfall des Aspergerverdachtes nicht mehr) und seine sowie die allgemeinen Möglichkeiten zu sondieren. Diese 5 Wochen haben alles schlimmer gemacht. Ich blieb bei den Therapien aussen vor bzw. wurden mir statt Hilfestellungen Vorhaltungen gemacht und der Junge wurde buchstäblich einfach laufen gelassen. Was zur Folge hatte, dass er, wieder zurück in seiner Schule, seine sowieso schon latent vorhandenen Weglauftenzenden auf die Spitze trieb: Gemeinsam mit einem Klassenkameraden fuhr er einen Tag mit den öffentlichen Verkehrsmitteln quer durch die Großstadt. 6 Stunden wurden sie polizeilich gesucht, bis sie schließlich von allein zur Gruppe zurückkamen. Nassgeregnet (in Hausschuhen) und hungrig. Muss ich erwähnen, dass niemand sich verpflichtet fühlte, einzugreifen? Auch nicht die Bus- und Bahnfahrer, denen eine Suchmeldung vorlag. Nein, denn ich schweife ab…
Fazit des kleinen Ausfluges: Klassenkonferenz, 1,5 Wochen Suspendierung und wieder der Hinweis: J. ist so nicht beschulbar! Sollte der Vorfall sich wiederholen, muss er die Schule verlassen.
Da war es wieder: Das Damokles-Schwert fiel rasant!
Ich fragte nach. Beim Direktor, bei den Pädagogen, beim Jugendamt, bei der Psychologin und den Therapeuten: Was bedeutet das? Was macht man mit einem Kind von 7 Jahren, welches zwar schulpflichtig ist, aber selbst die niedrigste Form von Schule sich nicht in der Lage fühlt, es zu beschulen? Ich sprach es direkt aus: „Heimunterricht unter Ausschluss von sozialen Einflüssen“ oder „geschlossene Einrichtung“? NIEMAND hatte den Mumm dieses einer verzweifelten und stinksauren Mutter zu bestätigen, aber ihr Schweigen war Antwort genug.
Da mir in der Reha an’s Herz gelegt wurde, eine ausführliche AD(H)S-Prüfung vornehmen zu lassen, nutzte ich unsere gemeinsame schulfreie Zeit und trat es an. 
Ich kürze ab: Jackpot! Plus eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS). Plus eine Lese- Rechtschreibschwäche (LRS)
Ok, kurze Schockstarre inklusive dem Gedanken „Ich glaube doch gar nicht an ADHS!“…
Dann hieß es wie immer: Aufstehen, Krone richten, lächeln und in den nächsten Kampf ziehen. 
Das bedeutete diesmal konkret: Einen Platz in der Tagesklinik der hiesigen Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) ergattern, um 1. gut begleitet zu testen, ob in unserem Fall eine medikamentöse Therapie hilfreich wäre und 2. in relativ geschütztem Rahmen und mit dichter Fachkraftstärke zu ergründen, was getan werden muss, um eine Beschulung aufrecht zu erhalten.
7 Wochen und mehrere Gespräche später kann ich euch noch keine Prognose geben.
Das zweite Medikament scheint anzuschlagen. J. läuft nicht mehr weg, aber es fällt ihm unglaublich schwer, teilzunehmen. Auf der einen Seite wünscht er sich nichts mehr als dazuzugehören, auf der anderen Seite weiß er einfach nicht, wie er das angehen soll. Er ist unglaublich schnell überreizt und auf 180. Gruppensituationen, Anforderungen, Strukturänderung kann er kaum aushalten. Aber er bleibt jetzt auch in Ausnahmesituationen greifbar, wo er vorher schlichtweg „ausgetillt“ ist und kreischend, tobend mit Fingern in den Ohren umhergerannt ist.
Wenn in zwei Wochen die Ferien zu Ende sind, wird J. von der KJP-Lehrerin begleitet zurück an seine Schule geführt. Ganz ganz kleinschrittig. Denn was auf keinen Fall passieren darf, da sind sich ausnahmsweise mal alle einig, ist ein weiterer Rausschmiss. Und weil das sogar das Jugendamt so sieht, wird es endlich einen Schulbegleiter geben. Das wurde mir in die Hand versprochen! Natürlich nicht sofort. Auch wenn das das Optimum wäre. Denn für die Beantragung eines Solchen bedarf es einiger Tests und Stellungnahmen, für die das Kind noch etwas stabiler werden sollte. Und selbst wenn der Antrag bewillig wurde, sitzt noch lange kein Begleiter mit in der Klasse. Es ist ein schlecht bezahlter, oftmals undankbarer Job, mit hohem Wechsel an Personal, welches in den seltensten Fällen vom Fach ist. Darum gibt es schlichtweg zu wenig Schulbegleiter. 6 Monate soll ich einkalkulieren. Und auch bei diesem Problem lässt uns das Jugendamt nicht im Regen stehen: Uns wurde zugesagt, dass die Stunden der HPA für diese Überbrückungsphase erhöht werden, so dass J. zur Schule gehen kann. 2 Stunden täglich, begleitet von seinem Team der HPA, bis ein Schulbegleiter gefunden ist.
Das ist nicht viel, und mir ist es nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich ihn wieder sehr viel allein zu Hause betreuen muss. Denn ehrlich gesagt schwinden mir die Kräfte. Kaum ist die kleine Schwester in die Krippe eingewöhnt, könnte ich mal etwas durchatmen, mich wiederfinden in all dem Mama- und Betreuerinnen-Dasein, ist der Große wieder im Haus. Von arbeiten gehen möchte ich gar nicht träumen derzeit.
Aber es ist ein Weg nach vorn!
Und nur dorthin will ich blicken.
Denn wie heisst es so schön: „Man muss mit den Karten spielen, die einem zugeteilt werden!“
Und ich bleibe weiter auf der Suche nach Inklusion…